Ein Leserbrief
von Bernd Suffert
Sehr geehrter Herr Professor Welzer,
Ihr Artikel, der heute, am Silvestertag, in der SZ erschienen ist, hat mir sehr gut gefallen. Wenn
ich Sie gleichwohl auf eine Schwachstelle darin aufmerksam mache, dann verstehen Sie das bitte
als Versuch, ihre Position zu unterstützen und zu stärken.
Die Schwachstelle besteht meines Erachtens darin, dass Sie die Frage des „zerstörerischen
Lebensstils“ rein von der Seite des Konsums aus betrachten. Die Rolle der Produzenten dagegen,
deren Leben nicht nur mittelbar, qua „dramatischer Zuspitzung der Ressourcenlage auf dem
Planeten“, bedroht ist, sondern ganz unmittelbar zerstört wird, indem sie unter erbärmlichen
Arbeitsbedingungen diesen ganzen Schrott produzieren, blenden Sie komplett aus. Sie müssen
gar nicht nach Bangladesch oder China schauen, um zu verstehen, was ich meine. Auch
in den westlichen Ländern gibt es genug Elendsexistenzen, die bei dem Zerstörungswerk
mitmachen – nicht weil sie einen luxuriösen, verschwenderischen Lebensstil pflegen wollen,
sondern weil sie es müssen, um die allerdringendsten Lebensbedürfnisse wie Essen, Kleidung
und Wohnung befriedigen zu können. Die Arbeiter bei Foxconn produzieren garantiert nicht
deshalb wie verrückt Handies und Computer, weil sie davon nicht genug bekommen können,
sondern weil sie Geld benötigen, um ihre Existenz zu fristen. Dasselbe kann man von jedem
Arbeiter oder Angestellten in jedem Betrieb sagen. Die Vorgabe von 25 Prozent Rendite, die
der Deutsche Bank-Chef Ackermann seinerzeit gemacht hat, drückt nicht die Leidenschaft der
Zigtausend Bankangestellten aus, die jedes Jahr mehr leisten und verdienen wollen. Sie ist die
vom Kapitalmarkt gesetzte Bedingung, bei deren Erfüllung sie hoffen können, dass ihnen ihr
Arbeitsplatz, dieses Heiligtum des kapitalistisch dressierten Menschen, noch für einige Jahre
erhalten bleibt.
Mit anderen Worten: wenn Sie von dem katastrophalen Ressourcenverbrauch reden, kommen
Sie an der Frage des Kapitalismus und seines Wachstumsimperativs nicht vorbei. Und dessen
Grundlage ist nicht materieller, sondern ideeller Art: der mysteriöse „Trieb“ des als Kapital
fungierenden Geldes, immerzu „mehr“ werden zu müssen. Für eine Abstraktion, um die es sich
bei der grundlegenden Kategorie des Kapitalismus handelt, ist das kein Problem. Es gibt keine
Geldsumme, die nicht von einer größeren Geldsumme übertroffen werden könnte. Aber wehe,
es hängen an dieser Verwertungslogik, die als reine Rechnung die Ewigkeit auf ihrer Seite hat,
reale menschliche Bedürfnisse im stofflichen Sinne des Wortes.
Ich zitiere aus einem vor Jahren entstandenen Artikel: „Im Kapitalismus herrscht der Glaube,
dass es auf jeden Fall Sinn macht, Geld zu verdienen – egal mit welcher Art von Tätigkeit. Ob
man sein Geld als Pornodarsteller/in verdient oder mit dem Anbau von Weizen, ob man in der
Waffen- oder in der Lebkuchenproduktion beschäftigt ist: unter dem Aspekt des Geldverdienens
ist das eine so gut wie das andere. Diese erhabene Toleranz oder Gleichgültigkeit, die der
Geldstandpunkt gegenüber den qualitativen Unterschieden der materiellen Welt besitzt, kann
man durchaus als esoterisch bezeichnen. Der Kapitalanleger, der auf die Verzinsung seines
Geldes und auf sonst nichts achtet, verkörpert sie wohl am besten, letztlich zollt aber jeder
Geldverdiener dem Geist dieser Esoterik seinen mehr oder weniger großen Tribut. Solange wir
in einer Gesellschaft leben, in der die für sich genommen blinde Logik des Geldverdienens einen
eigenen, das Handeln von Millionen Menschen bestimmenden Standpunkt konstituiert, dessen
Forderungen weise gegen die Güter dieser Welt wie etwa sauberes Wasser, atembare Luft und
ausreichend Ackerboden abgewogen werden müssen, dürfen wir uns alle zu den praktizierenden
Esoterikern, nämlich des Geldes, zählen.“
Es ist Ihr hoch zu schätzendes Verdienst und das der anderen Warner und Rufer aus
der „Besorgnisindustrie“, dass Sie uns „Normalmenschen“ reichlich empirisches Material zur
Verfügung stellen, mit dem Sie unserem Vorstellungsvermögen in Sachen „Apokalypse“ auf
die Sprünge helfen. Letztlich bleibt es aber doch bei allgemeinen Appellen und Vorhaltungen,
die sich an die „Gesellschaft“ als ganze oder an das abstrakte „Wir“ unseres „Lebensstils“
richten. Was ich vermisse: dass Sie dieses pauschale Anprangern und Händeringen, das man
zur Not eine „strategische Orientierung“ nennen könnte (wenn man den Satz: „so kann`s nicht
weitergehen“ als strategischen gelten lassen will), unterfüttern mit einer Taktik, die dazu
imstande wäre, das Anliegen der „Rettung des Planeten“ mit den ganz konkreten, stofflichen
Bedürfnissen der heute lebenden Menschen zu vermitteln. Denken Sie an die 41 Prozent der
Frühverrentungen, denen psychische Ursachen wie das Burnout-Syndrom zugrunde liegen,
denken Sie an die Selbstmordrate, an die Vielzahl von Suchterkrankungen und Allergien, an die
kaputten Wochenend-Beziehungen – den meisten dieser Menschen könnte mit einem Weniger,
Langsamer, Ruhiger, Besinnlicher sofort geholfen werden, bei den wenigsten handelt es sich um
fanatische Porschefahrer.
Wenn die Produktivität des Kapitalismus umgeschlagen ist in die Destruktion dessen, was das
Leben auf der Erde möglich und lebenswert macht, dann gilt es, das, was landläufig Produktivität
genannt wird, frontal anzugreifen. Nichts ist dafür besser geeignet als die radikale Reduzierung
der Arbeitszeit und die Verminderung der Arbeitsintensität – mit einem Wort: die drastische
Verbesserung der Lebensqualität der unmittelbaren Produzenten. Bei der heute erreichten
Produktivität würde ein Bruchteil der bisher üblichen Arbeitszeit, gleichmäßig verteilt unter den
Menschen, ausreichen, um uns (unter Einschluss der Chinesen etc.) ein angenehmes (schon allein
darin angenehmes) Leben zu ermöglichen. Ganze Industrien könnte man mit einer entsprechend
motivierten Bevölkerung zum Erliegen bringen.
Da Sie aber die Welt nur von der Konsumentenseite aus sehen, fürchten Sie, dass die
bessergestellten Produzenten auch wieder nur Handies und Flachbildschirme und massenhaft
Autos nachfragen werden. Weil ja die ganze Ressourcenverschleuderung angeblich nur deshalb
stattfindet, weil der „Markt“ es so will, weil die Konsumtrottel Lebensqualität immer nur mit
dem „allerneuesten Produkt“, das zu „haben“ ist, gleichsetzen. In dieser Hinsicht, scheint
mir, sind Sie ein Markt-Opportunist, und das Verdikt, die Leute stellten sich die Zukunft so
vor, wie sie jetzt sei, in diesem Fall als „Marktgesellschaft“, fällt auf Sie selbst zurück. Sie
vergessen, dass das, was „gekauft“ wird, erst einmal produziert worden sein muss. Und dass
es Zwang, nicht Freude ist, was die Menschen zur Produktion von Dingen treibt, über deren
Nutzen und Notwendigkeit sie zuvor nicht beratschlagt haben. Und Sie vergessen, dass „weniger
Arbeit“ auch „mehr Zeit zum Nachdenken“ bedeutet und die Gelegenheit, anspruchsvollere
Bedürfnisse zu entwickeln. Weniger Arbeit und weniger Hetze haben zu wollen, ist in dieser
Welt der Workoholics und Zwangsneurotiker ja an sich schon zum anspruchsvollen Bedürfnis
geworden. Verschaffen Sie den Menschen ein von Existenzängsten freies Leben (versprechen
oder propagieren Sie es, machen Sie Reklame dafür, etwa in der Art des bedingungslosen
Grundeinkommens), und Sie werden Erfolg bei der Absenkung der Produktivität haben.
Rudolf Bahro hat das Konsumverhalten in der kapitalistischen Massengesellschaft seinerzeit
auf „kompensatorische Bedürfnisse“ zurückgeführt, die man entwickelt, wenn man die
Entbehrungen eines entfremdeten Lebens ertragen muss. Greifen Sie diese Entbehrungen an,
prangern Sie den unmenschlichen Leistungsdruck an, der die Menschen dazu bringt, sich mit
hohem Fieber in den Betrieb zu schleppen, um nur ja nicht den Arbeitsplatz zu gefährden,
und Sie werden massenhaft Verbündete finden, wenn Sie öffentlich Zweifel anmelden, ob die
Produktion von 79 Millionen Autos im Jahr das Leben auf der Erde verbessert. Verbündete,
die diesem Zweifel vielleicht auch einmal durch die Tat, durch einen Streik oder sonst einen
Sabotageakt, Nachdruck verleihen können. Vor allem aber treten Sie dem Märchen entgegen,
dass eine hochgradig neurotische Single-Gesellschaft wie die unsere, in der die Menschen
mit griesgrämigen Gesichtern herumlaufen und menschliche Kontakte bloß noch per Internet
zustande kommen, eine „Wohlstandsgesellschaft“ sei!
Es ist schön, dass Sie die Möglichkeit andeuten, dass die Absenkung der Produktivität
gleichbedeutend sein kann mit der Verbesserung der Lebensqualität. Aber dieser Aspekt kommt
mir zu kurz, wird nur so nebenbei und halbherzig vorgetragen. Vielleicht liegt das daran,
dass Sie im vorliegenden Artikel unsere Aufmerksamkeit vornehmlich auf das Phänomen
der „Besorgnisindustrie“ lenken wollten (und dass ich Ihre anderen Publikationen noch
nicht kenne). Luhmann hätte hier wieder mal ein „Subsystem“ entstehen sehen, das zwecks
Stabilisierung des Gesamtsystems aus diesem sich ausdifferenziert. Vielleicht liegt es aber auch
daran, dass Sie sich nicht klar genug darüber sind, dass Ihre Position, ob Sie wollen oder nicht,
nirgendwo anders hinführt als zur radikalen Kritik des Kapitalismus. Als Kapitalismuskritiker,
der auch vom Mechanismus der Kapitalverwertung selbst etwas versteht, hätten Sie die
Genugtuung zu sehen, dass die unübersehbare Krise des Systems auch eine im engeren Sinn
ökonomische Seite hat, die dabei ist, das Wachstumsgerede sozusagen an der Realität zerschellen
zu lassen. Sie würden sich dann vielleicht denjenigen zugesellen, die angesichts der Depression,
die jetzt auch über die „reichen Länder“ hereinzubrechen „droht“, vor übertriebenem Alarmismus
warnen. Sie würden verkünden, dass das Ende des Kapitalismus eben gerade keine Apokalypse,
sondern sogar umgekehrt als ein Segen aufzufassen ist – sofern wir es lernen, bewusst damit
umzugehen.
Einen wichtigen Beitrag zu diesem bewussten Umgang mit der kapitalistischen Krise haben
Sie natürlich so oder so längst geleistet. Dieses Verdienst kann Ihnen niemand streitig machen.
Sogar ich, der von der Umwelt- und Klimaschutz-Szene wenig Ahnung hat, habe Ihren Namen
schon mehrmals in der Zeitung gelesen – mit dem entsprechenden Wiedererkennungseffekt. In
diesem Sinne will ich Sie mit meinem Brief nur dazu ermuntern und ermutigen, auf dem schon
beschrittenen Weg weiterzugehen: vielleicht mit etwas mehr antikapitalistischem Bewusstsein,
das heißt für mich: mit mehr Vertrauen in die Selbstzerstörungskräfte des Kapitalismus. Sehr
hilfreich für die Entwicklung dieses Vertrauens ist das Buch „Die große Entwertung“ von zwei
Verfassern, Norbert Trenkle und Ernst Lohoff, die ich als meine Mitstreiter betrachte. Erschienen
2012 im Unrast-Verlag.
Nochmals herzlichen Dank für Ihren schönen Artikel und alles Gute zum Neuen Jahr